Zeitgeschichte in Briefen
2. Briefgeheimnisse Lesung
Zeitgeschichte in Briefen
„Briefe gehören zu den wichtigsten Denkmälern, die der einzelne Mensch hinterlassen kann“. Johann Wolfgang von Goethe
Briefe: was spiegeln sie wider über das Leben der Zeit, der Region, persönliche Wahrnehmungen…? Die einen schrieben mehrmals täglich, zum privaten, intellektuellen oder künstlerischen Austausch, zur Selbstvergewisserung und Selbst-darstellung, ihre Briefe wurden sorgsam bewahrt und oft publiziert. Die anderen schrieben vielleicht nur ein paar Mal im Leben, weil Lebenswichtiges zu verhandeln war oder weil es von einem neuen Leben fern der Heimat zu berichten galt. In Büchern sind diese Briefe selten zu finden, auf der Hoffnung, dass sie ebenfalls sorgsam aufbewahrt wurden, gründet die Idee zum Projekt Briefgeheimnisse.
Viele sind der Einladung von Karin Bergmann, Leiterin Theater und Literatur der Salzkammergut Festwochen Gmunden und der Dramaturgin Claudia Kaufmann-Freßner gefolgt und haben Briefe aus ihrem persönlichen Umfeld, aus dem Familien- und Freundeskreis zur Verfügung gestellt. Aus rund 6.000 abgegebenen Briefen wurden zwei Lesungen konzipiert. Die beiden Lesungen sind ein Zusammenspiel aus Briefen von Prominenten, die ihre Sommerfrische im Salzkammergut verbrachten und Menschen, die sich von der Geschichte mitreißen haben lassen.
Nach Briefgeheimnisse I mit Briefen aus der Zeit von der Jahrhundertwende bis Ende des ersten Weltkriegs am 27. April 2024 im Stadttheater Gmunden widmet sich Briefgeheimnisse II der Zeit von 1945 bis in die Gegenwart. Die Briefe erzählen vom Wiederaufbau, von neu gewonnener Identität, von den einen, die nicht wiederkehrten und den anderen, die aufbrachen, um ihr Glück zu suchen – wie Frank Bokay: 1945 von den Kommunisten aus Ungarn vertrieben, lernt bei Grellinger das Konditor-Handwerk und wandert nach Amerika aus, um dort selbst ein Unternehmen zu gründen. Im Land der Cakes und Donuts scheinen die Möglichkeiten für exquisite Pâtisserie tatsächlich unbegrenzt:
"Lieber Herr Grellinger! Wenn Sie unternehmungslustig sind und sich losreißen können von der schönen Stadt Gmunden und wenn Sie verzichten können auf die Launen der Gmundner Kunden, dann schreiben Sie mir „Vielleicht komme ich!“ Steinreich könnten Sie hier werden und auf der Spitze des Traunsteins ein Schloss bauen mit Fahrstuhl."
Zum Glück der Gmundner sind die Grellingers in Gmunden und die Spitze des Traunsteins unverbaut geblieben.
Die Briefe werden zum kostbaren Brennglas, das uns jüngere und fernere Vergangenheit plastisch vor Augen bringt. Die zutiefst persönlichen Gedanken reflektieren das Leben der Menschen in unserer Region und das Zeitgeschehen, welches das Leben dieser Menschen bestimmte.
„Viele Menschen aus der Region sind unserer Einladung gefolgt, die Briefgeheimnisse ihrer Familien mit uns zu teilen. So treten vergessene Lebensgeschichten aus dem Hintergrund und die Schicksale hinter den Briefen erfahren eine neue Würdigung. Lebenslinien werden sichtbar, die quer durch Europa bis über den Atlantik führen – Flucht und Emigration, Sehnsucht und Entwurzelung, Politisches und Privates.“ Karin Bergmann, Leiterin Schauspiel und Literatur, Salzkammergut Festwochen Gmunden.
Mitwirkende
Idee: Karin Bergmann, Leiterin Schauspiel und Literatur, Salzkammergut Festwochen Gmunden
Gestaltung: Claudia Kaufmann-Freßner, Dramaturgin
Interpret:innen: Nicole Beutler, Fritz Karl und Marie-Luise Stockinger Programmleiterinnen Darstellende Künste - Salzkammergut 2024: Sonja Zobel, Martina Rothschädl
Medienstimmen:
Das stimmlich so gut temperierte wie differenzierte Schauspiel-Trio Nicole Beutler, Fritz Karl und Marie-Luise Stockinger las am Samstag den ersten Teil der "Briefgeheimnisse" im bis auf den letzten Platz gefüllten Gmundner Stadttheater. Sie statteten all diese Figuren mit Leben aus, nachdem die ehemalige Burgtheater-Direktorin und seit 2021 das Theater/Literatur-Programm der Salzkammergut Festwochen verantwortende Karin Bergmann dazu aufgerufen hatte, private Briefe vom Keller oder Dachboden für dieses Kulturhauptstadt-Projekt zur Verfügung zu stellen. "Danke, dass Sie nicht entrümpelt haben", sagte die ehemalige künstlerische Burgtheater-Generalsekretärin Claudia Kaufmann-Freßner, die aus diesem Mix an Schriften, künstlerischen Selbstvergewisserungen, Notizen und privaten Dialogen eine reiche, abendfüllende Erzählung gedrechselt hat, die Zeitgeschichte mit intimen Schicksalen verwebt. Fazit: 90 erhellende, hochkonzentrierte Minuten (OÖN, 28.4.2024).
Dramaturgisch hervorragend einbettet greifen die literarischen Vertiefungen Thomas Bernhard, Barbara Frischmuth, Christoph Ransmayr, Hilde Spiel, Friedrich Torberg und Carl Zuckmayer. Die Symphonie dieser Erinnerungen und Analysen fächert eine tragfähige Collage über Region und Zeitenwandel auf. Ein Projekt, das beispielgebend für die Kulturhauptstadt 2024 steht, weil es hilft, Zeitgeschichte und Identität dieser Region zu verstehen. Fazit: So geht kluge Vermittlung von Zeitgeschichte in G’schichten (OÖN, 20.10.2024).